Call for Paper
Bis zum 15. Juli 2025 nehmen wir Vorschläge für etwa 20-minütige Vorträge mit gleichbemessener Diskussion vornehmlich aus der Germanistik, Geschichtswissenschaft, Theologie und Rechtswissenschaft entgegen, die für eine text- oder quellennahe Erschließung der Amnestie bzw. ähnlich gelagerten Setzungen des (erzählten) Vergessens produktiv sind.
Bitte senden Sie uns Ihre Vorschläge per E-Mail.
Bevor abermals gewaltvolle Konflikte ausbrechen können, verkündet Athene in Homers Odyssee den von Zeus getroffenen Urteilsspruch: „Der Mord an den Söhnen und Brüdern / Sei nun vergessen ! Sie sollen sich lieben einander wie früher“ (Od. 24, 484 f.). Die göttliche Rechtsverfügung erstickt das Racheansinnen des Eupeithes in einer Amnestie und ermöglicht durch das Vergessen statt einer erneuten Gewaltspirale vollumfänglichen Frieden in der erzählten Welt. Unabdingbar ist für diese Friedenssetzung, dass alle involvierten Parteien auf Rachehandlungen verzichten, das heißt von selbstermächtigenden Vergeltungshandlungen absehen. Paul Ricoeur bezeichnet diesen Prozess als die Aufgabe, „nicht zu vergessen zu vergessen“. Homers Odyssee führt eindrücklich vor, dass nur das Zusammenspiel aus Vergessensgebot und Sanktionsverzicht den ithakischen Frieden restituieren und Versöhnung und Befriedung ermöglichen kann.
Dieser kulturstiftende Urtext verortet die Amnestie zwischen Vergessens- und Rechtssetzung, kollektiver Friedenskonstitution, diesseitiger wie jenseitiger Vergebung und den widerstrebenden anthropologischen Polen aus Versöhnungs- und Rachebedürfnis. Darüber hinaus reflektiert er gleichzeitig die interdisziplinären Berührungspunkte eines bestehenden Forschungsdesiderats: Obwohl die Amnestie als vertraglich vereinbarte politische Praxis der Friedensstiftung und -sicherung vor allem in Antike und Früher Neuzeit konturiert sowie als soziokollektives postautokratisches Aufarbeitungsprinzip eruiert wurde, leisten die bisherigen Forschungsarbeiten nur in Umrissen eine multiperspektivische Befragung der Amnestie. Besonders ersichtlich wird dabei eine literaturwissenschaftliche und genuin mediävistische Leerstelle.
Der Untersuchungsrahmen der Tagung soll Nachwuchswissenschaftler*innen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen in einen ersten interdisziplinären Austausch mit Amnestieformen und -reflexionen in der Vormoderne bringen. Ausgehend von der Produktivität des erzählten Vergessens in der mittelalterlichen Literatur ergeben sich sowohl durch die historische Breite als auch durch den thematischen Fixpunkt der Amnestie notwendigerweise eigenständige Fragestellungen, die inhaltlich und methodisch auf andere wissenschaftliche Disziplinen ausgreifen. Verfolgt man die sich auffächernden politischen, rechtsgeschichtlichen und theologischen Implikationen der Amnestie, so eröffnet sich eine komplexe thematische Verflechtung von rechtsgeschichtlichen Fragen nach Legitimität von Herrschaft und Gesetz, christlich-theologischen Perspektiven auf Versöhnung und anthropologischen Reflexionen über die Unmöglichkeit von Friedensschlüssen aufgrund eines konstanten Rache-Ansinnens des Menschen.
Thematische Schwerpunkte
Friedensstiftung als Herrschaftspraxis
Konnex von politischer Macht, Friedenssetzung und Amnestiegebot mit spezifischem Fokus auf die durch die Amnestie gewonnenen Stabilisierungsmechanismen zur Herrschaftssicherung
Dass die Amnestie als rechtlich legitimierte Vergessensforderung bei gleichzeitigem Straferlass eine spezifisch machtpolitische Ausrichtung im Kontext von Friedensreflexionen und staatlichen Umstrukturierungen gewinnt, manifestiert sich in einer umfangreichen Kommentierung der Herrschaftsethik.
Exemplarische Arbeitsfrage: Begegnen in mittelalterlichen Quellen bzw. literarischen Texten Formen von rechtlich legitimierten Vergessensforderungen im Kontext von Friedensreflexionen und staatlichen Umstrukturierungen?
Vergeben durch Vergessen?
Soteriologische Kontextualisierung der Amnestie, theologische Gewichtungsmöglichkeiten des polaren Verhältnisses von Vergebung, Vergessen und Amnestie
Die bei Ambrosius von Mailand vorgenommene Gleichsetzung von Gnadengabe, Sündenablass und von Gott eingegebenem Vergessen führt exemplarisch an die Grundfeste der Soteriologie und zu der Frage nach der Beschaffenheit von Versöhnung und Vergebung.
Exemplarische Arbeitsfragen:
Kann der multilaterale Vergebungsprozess mit dem Vergessen gleichgesetzt werden? Wenn die Prozessualität des Vergebens überhaupt nicht zu bestimmen wäre, muss das Vergessen dann nicht der notwendige ‚Platzhalter‘ sein?
Vergessen als friedliche Vergeltung
Narrative Umsetzung von destruktiven Vergeltungsansinnen, Literarisierung der moralstiftenden, kulturleitenden Antithetik aus Versöhnungsangebot und selbstvorgenommener Bestrafung
Die eigenständige und souverän ausgeübte Rache kann Unrecht nicht abbauen, sondern lediglich prospektiv akkumulieren. Das Nibelungenlied etwa bietet eine komplexe Szenographie aus erinnernd aktualisierten und schließlich exzessiv abgegoltenen Schuldvorwürfen. Aus der verletzten suone, die, als rechtswirksame Versöhnung missachtet wird, kann wiederum eine Berechtigung zur Fehde abgeleitet werden.
Exemplarische Arbeitsfragen: Wie reflektieren literarische Texte den Zusammenhang von potenziell friedensstiftender Vergessenssetzung und erzählten Racheansinnen? Gibt es verschiedene Relationierungen beider Dynamiken im Erzählen? Lässt sich auf poetologischer Ebene das kollektive Vergessen überhaupt erzählen?
Anmeldung
Die Teilnahme an der Tagung ist für die Teilnehmenden kostenfrei. Bitte melden Sie sich hier verbindlich an. Bitte beachten Sie, dass Ihr Teilnahmewunsch durch die Organisator*innen frei gegeben wird.